Reuchlins Befürchtungen

Johannes Reuchlin an Jakob Questenberg, 21.November 1514.
Quelle: Wikimedia Commons

Lateinischer Text / deutsche Übersetzung

S. D. P. Nihil te mihi iocundius, suavissime Iacobe, nihil autem, quo minus carere queam quam tuo subsidio miseris his temporibus et fortasse luctuosis, nisi adsit philosophia, quae omnem luctum, omnem miseriam repellit. Quare adiuva, obsecro res meas tuo consilio et autoritate. Δε γρ με συμβούλοις τος ρίστοις χρσθαι. Lovanii fertur hoc adversariis esse constitutum, ut, si me oppresserint, Erasmum Roterodamum sint agressuri, et ita singillatim omnes se velle poetas (sic enim bonarum literarum studiosos appellant) eradicare. Sed dii meliora.

Vale, spes mea. Ex Stutgardia, XI. Kal[endas] Decembres. Anno MDXIIII.

(Johannes Reuchlin: Briefwechsel. Band III: 1514–1517. Hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bearbeitet von Matthias Dall’Asta und Gerald Dörner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2006. S. 131f.)

Ich grüße Euch herzlich. Nichts ist erfreulicher für mich als Ihr, Jakob, Liebenswürdigster, nichts aber unentbehrlicher als Eure Unterstützung in diesen erbärmlichen Zeiten, die vielleicht auch betrüblich sind, wenn nicht etwa die Philosophie hilft, die alles Betrübliche, alles Erbärmliche davonjagt. Deshalb setzt Euch, ich bitte dringend, mit Eurem Rat und mit Eurem Einfluss für meine Angelegenheit ein, ich muß nämlich “die besten Ratgeber verwenden”. Meine Gegner in Löwen sollen sich fest vorgenommen haben, sobald sie mich erdrückt haben, Erasmus von Rotterdam anzugreifen, und so wollten sie alle “Poeten” (so nennen sie alle, die sich mit den artes liberales abgeben) einen nach dem andern ausrotten. Aber die Götter [sorgen für] Besseres.

Alles Gute, Ihr, meine Hoffnung! Stuttgart, 21. November 1514

(Johannes Reuchlin: Briefwechsel. Band 3: 1514–1517. Leseausgabe in deutscher Übersetzung von Georg Burkard. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007. S. 71f.)

Kommentar

In dem vorliegenden Briefausschnitt (es folgt noch ein längeres Postskriptum) äußert Reuchlin die Befürchtung, seine Gegner in Löwen planten, zuerst ihn, dann Erasmus und schließlich nach und nach alle Humanisten (“Poeten”) zu unterdrücken (eigentlich: auszurotten, lat. eradicare).

In Löwen befand sich eine der wichtigsten europäischen Universitäten. Die dortigen Theologen unterstützten die Kölner mit einem Gutachten gegen Reuchlins “Augenspiegel” und waren auch hinter den Kulissen aktiv, beispielsweise mit Briefen an einflussreiche Kardinäle in Rom.

Reuchlins Brief ging ebenfalls nach Rom. Jakob Questenberg war Beamter an der päpstlichen Kurie. Reuchlin, seit vielen Jahren mit ihm bekannt, hoffte auf die Unterstützung des einflussreichen römischen Sekretärs in seinem Ketzerprozess.