Der historische Hintergrund: Eine Art Vorwort zum Roman

Artikel zu lang?  Kurzversion

Als noch niemand Luther kannte

Das Jahrzehnt vor der Reformation war eine kulturell enorm produktive Zeit. Kopernikus entwarf die Theorie einer heliozentrischen Welt, Machiavelli erfand das moderne politische Denken, Morus das utopische, Erasmus erforschte die Grenzen der Satire, Dürer die der Druckgrafik, als einer Art Malerei in Schwarzweiß.

Giorgione, La tempesta, ca. 1508.
Quelle: Wikimedia Commons

Apropos Malerei: Michelangelo malte die Decke der Sixtinischen Kapelle aus, Raffael die Gemächer des Papstes, und Giorgione hinterließ die rätselhaftesten Gemälde der gesamten Renaissance.

In dieser Zeit, genauer: im Jahr 1515, spielt der Roman Die Humanistenverschwörung. Er erzählt von einem Komplott, das historisch belegt ist. In den Geschichtsbüchern hat es den Stellenwert einer Fußnote. Einer hartnäckigen Fußnote; weggelassen wird sie selten. Man hat sich angewöhnt, die Affäre als eine Art kleinen Vorboten der späteren großen Ereignisse anzusehen. Die Zeit unmittelbar vor dem Epochenjahr 1517 wird von Historikern gern als das Vorfeld der Reformation betrachtet.

Für die Zeitgenossen, die in diesem Vorfeld lebten, stellte sich das naturgemäß etwas anders dar. Bis auf wenige Insider hatte keiner von ihnen je von einem Theologieprofessor namens Luther gehört. So ist es nur folgerichtig, dass er in dem Roman nicht vorkommt, ja nicht einmal erwähnt wird. Die Humanistenverschwörung spielt zu einem Zeitpunkt, da der künftige Reformator noch ein Nobody war, oder, wie man es damals ausgedrückt hätte, ein Nullus.

Hinterhältiges Lob
Quentin Massys: Erasmus von Rotterdam, 1517. Quelle: Wikimedia Commons

Quentin Massys, Erasmus von Rotterdam, 1517.
Quelle: Wikimedia Commons

Anders als Luther hatte es der Theologe Erasmus von Rotterdam 1515 bereits zu einiger Popularität gebracht. Populär allerdings mit der Einschränkung, dass dem, der kein Latein beherrschte, der Name des Gelehrten eher nicht geläufig war. Bekannt war er in der res publica literaria, einer Art Vorläufer dessen, was man heute als scientific community bezeichnet.

Bekannt geworden war Erasmus durch die Satire Lob der Torheit (1511). Der Kunstgriff, die Torheit selbst sprechen und ihr eigenes Lob verkünden zu lassen, erlaubte ihm, Dinge zu sagen, die eigentlich nicht offen gesagt werden konnten.

Hans Holbein d. J.: Randzeichnung zum Lob der Torheit, 1515 Quelle: Wikimedia Commons

Hans Holbein d. J., Randzeichnung zum Lob der Torheit, 1515.
Quelle: Wikimedia Commons

Besonders interessant für die Zeitgenossen, die den subtilen Witz und die Raffinesse des Büchleins schätzten, waren jene Passagen, in denen die Borniertheit von Mönchen und kirchlichen Würdenträgern verspottet wurde. Bei den Angegriffenen, vor allem den Theologen, kam das nicht gut an.

Erasmus wusste, wie weit er gehen konnte. Die Satire Julius vor der verschlossenen Himmelstür, eine 1513 verfasste Abrechnung mit dem gerade erst verstorbenen Papst, gab er nicht in Druck. Die Sache war zu heikel, sie konnte leicht als Angriff auf das Papsttum überhaupt ausgelegt werden. Den lebenden Papst aber wollte er möglichst nicht gegen sich haben, wenn er sein wichtigstes Vorhaben in die Tat umsetzte.

Kalkulierter Tabubruch

Bei diesem Vorhaben handelte es sich nicht um ein literarisches Projekt, sondern ein wissenschaftliches, genauer: ein philologisches. In der Zeit der Renaissance war Philologie Grundlagenforschung – das Modernste, was die Wissenschaft zu bieten hatte. Und das Buch, dessen Edition sich Erasmus vorgenommen hatte, war nicht irgendeins, es war DAS Buch: die Bibel. Im Frühjahr 1516 erschien das Neue Testament in gedruckter Form zum ersten Mal in der Sprache, in der es geschrieben worden war, auf Griechisch.

Novum Instrumentum omne (1516), letzte Seite
Quelle: Wikimedia Commons

Das Besondere an dieser Erstausgabe: Sie war zweisprachig. Auf jeder Seite stand in der linken Spalte der griechische Text, in der rechten der lateinische – was nahelegte, Original und Übersetzung zu vergleichen. Das Bestreben der Humanisten, mit philologischer Expertise an überlieferte Texte heranzugehen, machte nun auch nicht mehr Halt vor der Heiligen Schrift.

Von konservativen Gelehrten wurde das, nicht ganz zu Unrecht, als Tabubruch empfunden. Die Bibel wurde vom sakrosankten Text zum Gegenstand philologischer Untersuchung. Besonders skandalös war die Tatsache, dass Erasmus die bisherige lateinische Version korrigierte. Die Vulgata, dem Kirchenvater Hieronymus zugeschrieben und für das gesamte Mittelalter verbindliche Übersetzung, sollte plötzlich verbesserungsbedürftig sein? So etwas konnte nur einen Verfall der kirchlichen Autorität und der traditionellen Theologie zur Folge haben.

Erasmus wusste, dass seine Arbeit nicht überall auf Gegenliebe stoßen würde. Man musste allerdings auch kein Prophet sein, um empörte Reaktionen vorherzusehen. 1515 war in der res publica literaria bereits bekannt, dass er eine Überarbeitung der Vulgata samt Edition des griechischen Textes vorbereitete, und noch bevor das Buch erschienen war, wurde das Vorhaben von bestimmten Kreisen bereits als unnötig und schädlich kritisiert.

Ketzerjäger und Humanisten

Die Angelegenheit, die die Gelehrtenrepublik zu jenem Zeitpunkt am meisten beschäftigte, war jedoch eine andere: der Streit zwischen dem Humanisten Johannes Reuchlin und den Kölner Dominikanern. Von der Sache her ging es dabei um die Bücher der Juden. Die Dominikaner wollten die Bücher beschlagnahmen und den Talmud und nach Möglichkeit das gesamte hebräische Schrifttum verbrennen. Reuchlin, eigentlich Jurist, als Gelehrter aber vor allem bekannt für seine Hebräischstudien, wurde zu ihrem Gegenspieler. 1510 vom Kaiser mit einem Gutachten in der Sache beauftragt, sprach er sich gegen die Verbrennung der Bücher aus.

Reuchlins Befürchtungen: Brief an Jakob Questenberg, 21. November 1514.
Quelle: Wikimedia Commons

Der Konflikt eskalierte und zog nach und nach immer weitere Kreise. Reuchlin wurde angegriffen; er verteidigte sich; eine Streitschrift folgte der anderen. 1513 wurde in Mainz ein Inquisitionsprozess gegen ihn eröffnet. Das Urteil fiel zu seinen Gunsten aus. Seine Gegner gaben jedoch nicht nach. Die Kölner Theologenfakultät holte sich Unterstützung von anderen Universitäten, vor allem von der wichtigsten, Paris, wo man Reuchlins Schriften als ketzerisch verurteilte. 1514 fand in Speyer ein zweiter Prozess statt. Abermals gab das Urteil Reuchlin recht. Der Kölner Dominikanerprior und Inquisitor Hoogstraten wurde zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt. Hoogstraten legte Berufung ein. Der Ketzerprozess wurde in Rom fortgesetzt. Die Angelegenheit beschäftigte mittlerweile die europäische Politik. Beispielsweise setzte sich der junge spanische König (der spätere Karl V.) beim Papst für eine Verurteilung Reuchlins ein. Auch der Kaiser, der französische König und andere Fürsten waren in die Sache verwickelt.

Vorgeschichte und Verlauf der Affäre waren natürlich in Wahrheit weit komplizierter. Es ist klar, dass das hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann. Zwei Aspekte seien jedoch hervorgehoben.

Erstens. Auf Seiten der Dominikaner dürfte neben ihrem Antisemitismus vor allem der Wunsch eine Rolle gespielt haben, ihr Ansehen als Verteidiger des christlichen Glaubens wiederherzustellen. Dieses Ansehen war angekratzt.

Urs Graf, Holzschnitt zum Prozess in Bern, 1508/09
Quelle: Wikimedia Commons

1509 waren im schweizerischen Bern die vier Oberen des dortigen Dominikanerklosters von einem Gericht als Ketzer verurteilt und verbrannt worden. Sie hatten der Bevölkerung über einen längeren Zeitraum mit ausgeklügelten Tricks Geistererscheinungen vorgetäuscht. Spätestens seit sich die Kunde von diesem Skandal verbreitete (was dank Buchdruck recht schnell der Fall war), mussten sich die Zeitgenossen fragen, ob die Kirche bei der Verfolgung von Ketzern mit dem Dominikanerorden nicht den Bock zum Gärtner machte.

Zweitens. Der Streit zwischen Reuchlin und seinen Gegnern wurde öffentlich ausgetragen. Das war nicht an sich neu, neu war es in dieser Form und Intensität. Das Publikum wurde halbjährlich durch die Neuerscheinungen der jeweiligen Streitschriften auf der Frankfurter Messe auf den letzten Stand gebracht. Die gesamte Gelehrtenrepublik konnte mitlesen, man konnte Anteil nehmen und sogar selbst eingreifen mit weiteren Publikationen, oder zumindest mit brieflichen Solidaritätsbekundungen. Es kann zwar keine Rede davon sein, dass sich die Humanisten geschlossen hinter Reuchlin stellten, die meisten vermieden es, in der Sache Stellung zu beziehen. Aber es waren doch nicht wenige, die ihn wissen ließen, dass sie auf seiner Seite standen.

Reuchlin, Augenspiegel Quelle: Wikimedia Commons

Reuchlin, Augenspiegel (Titelblatt), 1511.
Quelle: Wikimedia Commons

Und übrigens war die Sache von Anfang an nicht nur eine Angelegenheit der res publica literaria. Die wichtigsten Streitschriften wurden auf Deutsch abgefasst, z. B. Reuchlins Augenspiegel. Auch das war neu: das Bestreben, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben zu lassen und bei dieser Meinungsbildung zu beeinflussen. Im Streit um die hebräischen Schriften entwickelte sich eine Form der Öffentlichkeit, die es in vergleichbarer Art noch nicht gegeben hatte.

Neue Medien

Hintergrund all dieser Entwicklungen war etwas, was man als die Medienrevolution der Zeit um 1500 bezeichnen kann. Natürlich: der Buchdruck. 1515 existierte ein florierender Buchmarkt, überall in Europa gab es Druckereien, die Frankfurter Messe hatte sich als Treffpunkt der Branche etabliert, Drucker, Verleger, Buchhändler und Kunden vernetzten sich quer über den Kontinent.

Was gern übersehen wird: Es ging nicht nur um Texte. Noch vor dem Buchdruck waren Holzschnitt und Kupferstich erfunden worden und hatten sich im Laufe des 15. Jahrhunderts verbreitet. Druckgrafik, die massenhafte Produktion von Bildern, war die andere Hälfte der Medienrevolution.

Den Maßstab setzten die Bilder von Dürer. Sie waren bahnbrechend: so genau, so perfekt, so ausdrucksstark können gedruckte Bilder sein. Schon die Holzschnitte der Apokalypse (1498) hatten die Zeitgenossen verblüfft.

Albrecht Dürer, Hieronymus im Gehäus, 1514
Courtesy National Gallery of Art. Washington

Dürers Kupferstiche von 1514 (Hieronymus, Melancholie) demonstrierten, wie weit man gehen konnte, was technisch und künstlerisch möglich war. Überall in Europa waren seine Bilder gefragt, nicht zuletzt bei Kollegen.

In der Folge hat sich die Druckgrafik in zwei getrennte Richtungen weiterentwickelt: eine künstlerische, in der es darum ging, neue Ausdrucksformen zu finden, und eine wissenschaftlich-technische, in der es darum ging, genaue Abbildungen herzustellen. Holzschnitt und vor allem Kupferstich wurden für lange Zeit zu DEN Medien der Bildinformation. Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts ist schwer vorstellbar ohne die zahllosen Abbildungen. Die Kunst der Renaissance war nicht nur Kunst, sie war auch Grundlage der modernen Wissenschaft. Dürers Beitrag dazu wird bis heute unterschätzt.

Was Sie in diesem Roman erwartet

Die Humanistenverschwörung geht der Frage nach, wie man sich die Zeit vor der Reformation vorzustellen hat. Der Roman ist eine Art Momentaufnahme aus dem Jahr 1515, konzentriert auf einen Zeitraum von ungefähr zwei Wochen im Sommer. Also keine Schilderung einer ganzen Epoche, sondern nur ein winziger Ausschnitt. Ebenso keine Reise durch halb Europa, sondern lediglich ein paar Fußmärsche durch die Gassen einer – für damalige Verhältnisse – europäischen Metropole.

Schauplatz der Handlung ist Nürnberg. Nicht zufällig lebte hier einer der berühmtesten Maler der Renaissance. Nicht zufällig heißt: Dürer ist dieser Stadt treu geblieben, obwohl er auch in anderen europäischen Zentren hätte Fuß fassen können. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines jungen Mannes, der die Welt, in der er sich bewegt, in ironischem Ton kommentiert: Lucas Teufel, 29, Lateinlehrer ohne Anstellung, Glücksritter ohne Fortune.

Allgegenwärtig: Christophorus

Durch seine Augen blickt man als Leser in die fremde Zeit, begegnet streitbaren Gelehrten, renitenten Buchdruckern und einem allgegenwärtigen Heiligen, bekommt Einblick in die Werkstatt eines berühmten Malers, in die Funktionsweise der reichsstädtischen Justiz, in den Alltag einer frühneuzeitlichen Stadt. Was beschäftigte die Leute damals? Worüber redeten sie, worüber regten sie sich auf, machten sie sich lustig?

Der Roman versucht einen möglichst lebendigen Eindruck von jener Zeit zu vermitteln. Ich habe mich bemüht, keine Geschichtslektion daraus zu machen, sondern etwas Unterhaltsames – einen Kriminalroman eben.